Wednesday, December 21, 2016

Monsieur Dior und seine Liebe zu Kleidern By Dennis Braatz

Christian Dior wollte nichts als Mode machen - doch dass alle seine Kreationen begehrten, quälte ihn. Zum 70-jährigen Bestehen des Hauses wird die Autobiografie des Designers neu aufgelegt. Kurz nachdem das letzte Mannequin den Laufsteg hinter sich gelassen hat, schiebt der Couturier den grauen Satinvorhang zur Seite und tritt in den Saal. Er schüttelt Hände, küsst parfümierte Wangen und erntet Bravorufe. Er wird rot. Am liebsten wäre Christian Dior jetzt allein mit seinen Kleidern, um sie in Ruhe anschauen und ihnen danken zu können."Ich möchte schreien, so überwältigend ist das Gefühl, dem Leben wiedergegeben zu sein. Und dennoch weiß ich, dass ich schon morgen eine grausame Leere verspüren werde", schreibt er in seiner Autobiografie über den Moment nach einer Show. Besser könnten zwei Sätze Diors Beziehung zur Mode nicht auf den Punkt bringen: Er hat sie verehrt und geliebt. Gleichzeitig empfand er sie als Last und fühlte sich von ihr erdrückt. Erstmals auf Deutsch ist seine Autobiografie "Dior" im Jahr 1957 erschienen. "Es gibt keine pikanten Histörchen über berühmte oder berüchtigte Kundinnen", schrieb damals mit leiser Enttäuschung die Zeit. Stattdessen habe Dior in seinem Lebensbericht dargestellt, wie er wurde, was er ist. Nahezu 60 Jahre lang war das Buch vergriffen. Nun, zum 70-jährigen Bestehen des Hauses, hat es Schirmer/Mosel unter dem Titel "Dior und ich" neu aufgelegt. Die 260 Seiten sind nicht nur deshalb lesenswert, weil heute jeder die Marke Dior kennt, aber kaum noch jemand etwas über ihren Gründer weiß. Das Buch ist auch ein lehrreicher Gegenschnitt zur aktuellen Situation der Branche. Es geht schon damit los, dass Christian Dior die Schlagzahl an Kollektionen zu hoch fand - dabei waren es damals nur zwei pro Jahr. Drei Monate arbeitete er mit seinem Personal an einer neuen Saison. Danach fuhr er auf sein Anwesen an der Kanalküste, nicht weit entfernt von seinem Elternhaus in Granville, um sich zu erholen: "Ich habe nie mehr als drei Monate Zeit, um über die vergangene Kollektion nachzusinnen, bevor ich schon wieder an die nächste denken muss."

Der Verkaufsdruck überschattet den kreativen Prozess

Auch einem anderen Dior-Designer war alles zu viel: Raf Simons kündigte 2015 seinen Job, weil er kaum noch Zeit für den kreativen Prozess fand und sich dem Verkaufsdruck ausgesetzt fühlte. Allerdings musste er auch mindestens sechs Kollektionen im Jahr entwerfen, zwei für das Prêt-à-porter, zwei für die Couture und zwei Zwischenkollektionen; zwischendurch jettete er noch zu Store-Eröffnungen (Monsieur Dior dagegen schipperte höchstens mal mit der Queen Mary nach New York). Das Label schmückt inzwischen eben auch Männer- und Kindermode, Schuhe und Taschen, Sonnenbrillen, Schmuck, Uhren, Parfums, Make-up, Nagellacke und Cremes. Es ist eine Zentrale des Luxus geworden, in Zahlen: mehr als 35 Milliarden Euro Umsatz im Jahr bei weltweit 122 000 Mitarbeitern. Als Christian Dior am 15. Dezember 1946 in der Pariser Avenue Montaigne seine Räume für handgemachte Kostüme und Kleider eröffnete, hatte er gerade mal zwei Handvoll Angestellte. Ein kleines Studio, einen Vorführsalon, ein Zimmer für die Models, ein Direktionsbüro, sechs Umkleideräume. Mehr war nicht. Bis kurz vor Unterzeichnung des Mietvertrags zweifelte er noch schwer daran, ob er als Couturier überhaupt geeignet sei. Tatsächlich explodierte der Name Dior in Europa dann innerhalb kürzester Zeit - wie heute #chanel auf Instagram, wenn Fashion Week ist.
1946 ist das Jahr, in dem sich Europa langsam wieder aufrappelt. Nach dem langen, grausamen Krieg sehnt man sich wieder nach Verschwendung und Schönheit. Das Zentrum kann nur Paris sein, weshalb die Vertreter der hohen Gesellschaft dort eine Lustbarkeit nach der anderen veranstalten. Zum "Ball der Vögel" des Künstlers Christian Bérard müssen die Gäste mit einer Halbmaske aus Federn kommen. Die Schriftstellerin Marie-Laure de Noailles lädt "Auf den Mond". Was der neuen Hoffnung fehlt, ist die richtige Tagesmode.

Entfremdung von der eigenen Kunst 

In seinem Atelier verbraucht Dior zu dieser Zeit für einen einzigen Rock so viel Stoff wie andere für zehn. Dazu komponiert er die streng taillierte "Bar"-Jacke (benannt nach der Bar im Hotel Plaza Athénée) mit kleinem Schößchen, das den voluminösen Rock einleiten soll. Vorbild ist die Wiener Hofmode, die Sisi-Silhouette, bloß eben nicht bodenlang, sondern bis übers Knie. Die Stoffauswahl und Schnittfindung ist für Dior ein Vorgang voller "Sorgen und Verwirrungen". Am Ende liebt er das Ergebnis so sehr, dass er es "Chérie" tauft: "Es verlieh der Trägerin die Brust einer Nymphe, die Taille einer Sylphide und entfaltete, einem riesenhaften Fächer gleich, seinen Rock, in den achtzig Meter weißen Taft eingearbeitet waren, in tausend Falten, deren wogende Weite fast bis an die Knöchel reichte." Diese Mode, die tonangebend für die nächsten zehn Jahren werden soll, wird von der Presse "New Look" getauft. Wochenlang muss die Schau wiederholt werden, weil der Strom an Kundinnen und Einkäufern nicht abreißen will. Es kommen so viele, dass der Aufgang zum großen Salon verbreitert wird. Der Couturier ist überglücklich und gleichzeitig betrübt. Er fühlt sich seiner Kleider beraubt, nennt sie "Beutestücke einer gewonnenen Schlacht". Er kann sie jetzt nicht mehr anschauen. Christian Dior ist ein Modemacher, der sich der Kreation von Kleidern völlig hingibt. Selbst die Abnahme ihrer Prototypen lässt er wie ein Theaterstück aussehen: Während er in einem Sessel sitzt, muss ein Assistent jedes Mal, wenn ein Mannequin zum Vorführen ins Zimmer kam, laut rufen: "Monsieur Dior, ein Modell!". Mit dem Geschäft, das um seine Kleider herum passiert, und ihrer Handhabe als Ware kommt er jedoch nicht klar. Er verabscheut auch das Spiel mit der Presse und beschreibt länglich, wie es ihn schmerzt, wenn seine Mode kopiert wird. Einmal habe man sogar einen Gast mit einer Fotokamera erwischt, die kaum größer als ein Knopf war!

Ein neuer, feministischer New Look

Zu einer "systematischen Plünderung" kommt es durch eine Amerikanerin, die Kundinnen in die Schauen einschleust und seine Kleider aufkaufen lässt. Später verleiht sie die Kleider für bis zu 500 Dollar an Frauen, damit die sich die Originale günstig nachnähen können. In Frankreich wird die "Modellverleiherin" später zu ein paar Millionen Francs verurteilt. In den USA ist ihr Gewerbe aber durch kein Gesetz verboten - sie darf weiter praktizieren. Heute gehört Dior zu den meist kopierten Modefirmen der Welt, nur läuft die Sache mit den Plagiaten inzwischen ein bisschen anders ab: Jede Show landet sofort im Internet, Fast-Fashion-Konzerne bieten die Looks für eine Handvoll Euro schon Wochen später in den Fußgängerzonen an. Was Monsieur Dior wohl dazu sagen würde? Gefallen dürfte ihm aber sicherlich, dass erstmals eine Frau an der kreativen Spitze seines Hauses steht: Die ehemalige Valentino-Designerin Maria Grazia Chiuri hat bei der Pariser Modewoche im September ihre erste Kollektion gezeigt, die sie explizit als feministisch verstanden haben wollte. Ein neuer New Look, sozusagen. Christian Dior führte sein eigenes Haus nur zehn Jahre lang: 1957 starb er bei einer Kur in Italien an einem Herzanfall. Die Ursache ist nie richtig aufgeklärt worden, aber es wird vermutet, dass er eine Tuberkulose nicht richtig auskuriert hatte. Wie seine Marke danach ständig vergrößert und auf immer mehr Umsatz getrimmt wurde, mit Mode als Stangenware und den ganzen Accessoires und Beauty-Produkten, davon hat er nichts mehr mitbekommen. Heute läuft das überall so, auch bei Chanel, Louis Vuitton oder Yves Saint Laurent. Christian Dior, dieser feinsinnige und überaus schüchterne Mann, der in jeder Kollektion Herzblut vergoss, hat an das Diktat des Kommerzes nie so recht glauben können: "Mögen alle, die da glauben, der Wechsel der Mode könne kaufmännischen Gesichtspunkten gehorchen, sich eines Besseren belehren lassen", schreibt er in seiner Autobiografie. "Ich versichere ihnen, dass so eine beeinflusste Mode keine Lebenskraft hat, keine Chance zu gefallen, keinerlei Entwicklungsmöglichkeiten haben würde."
In diesem Punkt hat er sich leider getäuscht. SZ Amazon.de (Deutsch) Wikipedia.de (Deutsch)
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